17. Plattform Gesundheit: Selbstverwaltung auf Abruf. Legitimation oder Beschneidung?

Rückblick auf die Veranstaltung am 8. November 2017

Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung hat eine über hundertjährige Tradition und ist Garant für sachgerechte Entscheidungen und Versichertennähe. Ihre Gremien sind quasi die Parlamente der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherung. Obwohl niemand das Prinzip Selbstverwaltung dabei ernsthaft in Frage stellt, ist sie Gegenstand andauernder Debatten. „Selbstverwaltung auf Abruf – Legitimation oder Beschneidung?“ – zu diesem Thema diskutierten rund 130 Teilnehmer aus Politik, Verbände und Gesundheitswirtschaft auf der 17. Plattform Gesundheit des IKK e.V. in der Berliner Kalkscheune.

Hans Peter Wollseifer, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V., kritisierte, dass die Handlungsspielräume der Selbstverwaltung zunehmend beschnitten werden. Das wichtigste Recht, die Finanzautonomie der Krankenkassen, sei der Selbstverwaltung bereits 2007 mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz entzogen worden. Höhepunkt sei jedoch das mittlerweile in Kraft getretene GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz. Dass auch die Legitimation der Selbstverwaltung zunehmend angezweifelt werde, ärgere ihn. Wollseifer verwies darauf, dass Selbstverwaltung von der Möglichkeit lebe, „die unterschiedlichen Interessen frei auszugleichen“ – in der sozialen Selbstverwaltung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, in der gemeinsamen Selbstverwaltung zwischen Leistungserbringer und Kostenträger. Eine „gemeinsame Entscheidung“ würde von allen Seiten getragen werden. Der Ruf „nach dem starken Staat“ bei Konflikten sei nicht zielführend. 

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Die Selbstverwaltung sei „die einzige vernünftige und rechtsstaatliche Möglichkeit, öffentlichen Aufgaben nachzukommen“, sagte Klaus Wiesehügel, stellvertretender Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen. Für ihn sei es ein „falsches Signal“, Patientenvereinigungen in die Selbstverwaltung aktiv einzubinden. „Der Dialog ist wichtig und gut“, so Wiesehügel. Er plädierte für die Beibehaltung der Friedenswahl. Allerdings müsse es für die Aufstellung der Listen im Vorfeld eine intensive Diskussion geben. Als Beispiel führte Wiesehügel das Prozedere für die Bundestagswahl an. Nicht nachvollziehen könne er den Ruf vieler Parlamentarier nach einer Urwahl. Im Bundestag würden schließlich von 709 Abgeordneten auch nur 299 Parlamentarier direkt gewählt.

Prof. Dr. Ulrich Becker, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, betonte, dass jede Regierung die Selbstverwaltung demokratischer und besser gestalten wollte. Becker: „Für die Politik ist die Selbstverwaltung ein ungezogenes Kind, das man besser an die Hand nehmen sollte.“ Sie sei nicht durch die Verfassung garantiert und habe demnach eine Staatsfunktion. Nach Aussage von Becker kann der Staat damit bei der Selbstverwaltung mitwirken. „Kooperation statt Konfrontation“, so müsse die Selbstverwaltung arbeiten, über deren Ausgestaltung weiter diskutiert werden müsse.

Selbstverwaltung wirke politischem Einfluss entgegen, sagte Alexander Gunkel, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Als „mittelbare Staatsverwaltung“ verhindere sie, dass Entscheidungen nicht politisch, sondern sachlich getroffen würden. Gunkel sieht die soziale Selbstverwaltung derzeit „nicht auf dem Vormarsch“. Um die Autonomie müsse gekämpft werden. Aufgearbeitet werden müsse, warum der Gesetzgeber zunehmend in die Hoheit der Selbstverwaltung eingreife.

Für Stefan Füll, Verwaltungsratsvorsitzender der IKK classic, ist die Selbstverwaltung in den Krankenkassen flexibel und effektiv. Schnelle Wege und Entscheidungen würden die Arbeit des Verwaltungsrates der IKK classic auszeichnen. Wer von einer ineffizienten Selbstverwaltung rede, habe eine andere Sichtweise auf die Selbstverwaltung, so Markus Hofmann, Abteilungsleiter Sozialpolitik beim DGB-Bundesvorstand. In mehr als 90 Prozent der Fälle würden die Versicherten die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ohne Probleme bekommen. Wenn es bei zehn Prozent der Fälle um existenzielle Fragen gehe, sei die Wahrnehmung eine ganz andere. Hofmann: „Die GKV ist ein Massengeschäft, das sehr gut funktioniert – das System ist effizient und effektiv.“ Auch Hofmann forderte, mehr auf Patientenvertreter zuzugehen. Eine Stimme für sie lehnte er ab: „Das schwächt die Versichertenseite.“

Ein „Fan“ der sozialen Selbstverwaltung ist Ursula Helms, stellvertretende Sprecherin des Koordinierungsausschusses der Patientenvertretung beim Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA). Bei der gemeinsamen Selbstverwaltung könne aber „schneller und besser“ gehandelt werden. Hier wäre ein „Schubs“ sehr gut, beispielsweise aus Qualitätsgründen, wie der Bedarfsplanung. Helms plädierte für einen intensiven Dialog. „Die Stärkung der Patientenvertretung in der Selbstverwaltung heißt nicht per se Sitz und Stimme“, sagte Helms. Sie wolle als Patientenvertreter der Stachel im Fleisch sein. Die Patienvertreterin bemängelte, dass der Wettbewerbsgedanke in den Krankenkassen einen zu großen Raum einnehme: „Hier sollte nicht nur die Wirtschaftlichkeit im Mittelpunkt stehen, sondern mehr die Qualität der Leistungen.“

Ob das Thema Sozialwahlen bzw. Selbstverwaltung in der kommenden Legislatur eine Rolle spielt, ist derzeit unklar. Klaus Wiesehügel hoffe, dass sich die Politik dazu durchringt, die Selbstverwaltung zu stärken. Nach Aussage von Hofmann ist bei der gemeinsamen Selbstverwaltung „Musik“. Onlinewahlen lehnt Hofmann ab: „Sie sind rechtlich nicht sauber.“

Jürgen Hohnl, Geschäftsführer des IKK e.V. verwies darauf, dass Selbstverwaltung ein hohes Gut sei und nicht schlecht geredet werden dürfe. Darüber zu diskutieren sei jetzt wichtig, um frühzeitig beispielsweise die Sozialwahlen zu stärken. Hohnl: „Unser Auftrag ist, Verwaltung zu organisieren – mit Leidenschaft, das gehört zur Selbstverwaltung.“

Bildergalerie der 17. Plattform Gesundheit

Einen kleinen Eindruck von der 17. Plattform Gesundheit zum Thema „Selbstverwaltung auf Abruf. Legitimation oder Beschneidung?“ erhalten Sie hier in unserer flickr-Bildergalerie

Dokumentation Wir haben für Sie via Twitter parallel von der Veranstaltung berichtet. Die Tweets finden Sie unter @ikk_ev oder dem Hashtag #Plattform_ikkev.

Der IKK e.V. ist die Interessenvertretung von Innungskrankenkassen auf Bundesebene. Der Verein wurde 2008 gegründet mit dem Ziel, die Interessen seiner Mitglieder und deren 5,1 Millionen Versicherten gegenüber allen wesentlichen Beteiligten des Gesundheitswesens zu vertreten.