9. Plattform Gesundheit: „Die Würde des Patienten: unantastbar oder gefährdet?“

Rückblick auf die Veranstaltung am 16. Oktober 2013

Hans Peter Wollseifer, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V., Cornelia Rundt, niedersächsische Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration, Hans-Jürgen Müller, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V. (v.l.n.r.)

Menschenwürde, Respekt, Selbstbestimmung und Grenzen der Medizin – noch nie wurde in Deutschland so intensiv über ethische Aspekte im Verhältnis von Patienten und Ärzten, moderner Medizin und ökonomischen Aspekten sowie Kosten und Nutzen diskutiert wie zurzeit: Gefährdet eine zunehmende Ökonomisierung die medizinische Ethik? Wie spielen Intensivmedizin, Palliativmedizin und Menschenwürde zusammen? Müssen wir unseren Gesundheitsbegriff überdenken? Mehr als 100 Teilnehmer aus Politik, Gesundheitswirtschaft und Krankenversicherung diskutierten am 16. Oktober 2013 in der Berliner Kalkscheune das kritische Thema: Wie ist es in der hochspezialisierten Medizin um die Patientenwürde bestellt

Hans Peter Wollseifer, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V., betont, dass sich diese Frage jeder selbst stellen müsse. Nach Aussage von Wollseifer geht es um den Respekt der Autonomie des Patienten. „Der Ruf nach Zuwendung und menschlicher Nähe wird lauter. Es geht auch um Fürsorge“, betont Wollseifer. Und zudem um „Gleichheit und Gerechtigkeit“. Wollseifer: „Der Mediziner ist gefordert, die richtige Balance zu finden – zwischen den Interessen des Patienten, des eigenen Arbeitgebers, zum Beispiel des Krankenhauses, sowie den Vorgaben der Krankenkassen.“

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„Wir brauchen eine wohnortnahe Versorgung zu menschenwürdigen Bedingungen, dafür müssen die Strukturen verändert werden“, sagte Cornelia Rundt, niedersächsische Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration. Ein Umdenken vom Markt sei dafür notwendig. Nach Einschätzung von Rundt hat die Würde mit der Haltung der Menschen zu tun, die im Gesundheitswesen arbeiten. „Die Haltung braucht jedoch Ressourcen“, so die Ministerin. Für sie heißt das vor allem tarifgerechte Bezahlung. Rundt kündigte an, dass die individuellen Gesundheitsleistungen, kritisch beleuchtet werden. „Sie sind verfehlt“, betonte die Ministerin. Der ärztliche Rat dürfe nicht von monetären Aspekten beeinflusst werden.

Für Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe, Seniorprofessur für Bevölkerungsmedizin der Universität Lübeck, ist das derzeit größte Problem „eine absichtsvolle Über-, Unter- und Fehlversorgung, gemessen am aktuellen medizinischen Standard.“ Anstelle der Menschenwürde spricht Raspe von Humanität. Um die Ökonomisierung in der Medizin zu beherrschen, müssen nach Ansicht von Raspe drei Aufgaben erfüllt werden: Identifikation der Phänomene, wie Chefarztboni, Abweisung von Patienten oder Selbstzahler-Angebote und Versorgungsforschung.  Und außerdem gehört dazu die Bewertung einer möglichen Rationalisierung bis hin zum rechtswidrigen Verhalten von medizinischem Personal. Grundprinzipien dürfen dabei, so Raspe, nie außer acht gelassen werden: „Vorrang des Patientenwohls, Patientenautonomie und soziale Gerechtigkeit.“

Lassen sich die Versorgung der Patienten und die Kommerzialisierung unter einen Hut bringen? Diese Frage stellt sich Prof. Dr. Volker Ulrich, Gesundheitsökonom an der Universität Bayreuth. Am Beispiel des sogenannten Organtransplantationsskandals beschreibt Ulrich, wie Manipulationen zu verhindern seien: „Insbesondere durch Maßnahmen der Qualitätssicherung.“ Negative Auswirkungen der Ökonomisierung zeigen sich für Ulrich bei der Fallpauschalen-Vergütung im stationären Bereich. „Das DRG-System verursacht medizinisch nicht erklärbare Mengenausweitungen, vor allem bei den Fällen, die wirtschaftlich Gewinn versprechen“, so Ulrich.  Sein Fazit: „Sofern die Ökonomie dazu beiträgt, dass die knappen Mittel in die beste Verwendung fließen, stellt sie keinen Gegensatz zur medizinischen Sichtweise dar.“ Die Ökonomie habe deshalb „in erster Linie eine beratende beziehungsweise unterstützende Funktion.“

Nach Ansicht von Dr. Rainer Hess, Vorstand Deutsche Stiftung der Organtransplantation und ehemaliger Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, hat Deutschland ein Gesundheitssystem, dass die Menschenwürde wahrt. „Der Druck der Ärzte gefährdet die Versorgung – dem steht jedoch ein mündiger Patient gegenüber“, so Hess. Sein Kritikpunkt: Sowohl die Vergütungsstruktur wie der Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen ist morbiditätsorientiert. Ausgeglichen werden jedoch nur pauschale Kosten, das führt aus seiner Sicht zu Verwerfungen. Hess: „Der Schwerstkranke kostet mehr, als das Krankenhaus oder die Krankenkasse aus dem Topf erhalten.“ Kritisch betrachtet Hess die stationäre Fallpauschalen-Vergütung bei den Organtransplantationen. „Wir haben zu wenig Organe, aber die Kliniken stehen im Wettbewerb“, so Hess. Beispiel Lebertransplantationen: Jährlich stehen 1.000 Organe zur Verfügung, die in 24 Kliniken transplantiert werden können. Nach Aussage von Hess ist der einzige wettbewerbliche Aspekt die Warteliste. „Die Finanzierung muss infrage gestellt werden“, fordert Hess.

Dr. Jürgen Gohde, evangelischer Theologe und Vorsitzender des Kuratoriums Deutscher Altershilfe, kritisiert die nachstationäre Versorgung von Demenzkranken. „Da haben wir erhebliche Probleme.“ Nach seiner Einschätzung ist die Rationierung „rechtlich nicht möglich“. Gohde, der bis 2009 auch Vorsitzender des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs war, ist sich sicher, dass „der Expertenstandard in der Pflege nicht refinanzierbar ist.“

„Die Würde des Patienten ist unantastbar, aber auch gefährdet“, so die Einschätzung von Hans-Jürgen Müller, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V, Vorsitzender des Verwaltungsrates des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Sachsen-Anhalt und Vorsitzender des Verwaltungsrates der IKK gesund plus. „Wenn Patienten nicht mit ihrer Behandlung einverstanden sind, können sie viel dagegen tun“, sagt Müller. In diesem Zusammenhang erwähnt Müller die Widerspruchsstellen wie auch die Unabhängige Patientenberatungsstellen, die von der GKV finanziert werden. Man müsse aufpassen, „dass die Patienten nicht der Ökonomisierung geopfert werden“. Sein Appell: „Augenmaß zwischen Arzt und Patient.“

Für Jürgen Hohnl, Geschäftsführer des IKK e.V., ist die Lebensqualität des Patienten das Entscheidende. „Wir müssen die Frage des medizinischen Bedarfs neu formulieren“, sagt Hohnl. Er erinnert an die Losung des vergangenen evangelischen Kirchentages – „so viel du brauchst.“ Die Nutzenbewertung sei hierfür ein wichtiger Ansatz. Von der neuen Regierung fordert er, ein Präventionsgesetz auf den Weg zu bringen: „Das wäre der Lackmustest.“

Bildergalerie der 9. Plattform Gesundheit

Einen kleinen Eindruck von der 9. Plattform Gesundheit zum Thema „Die Würde des Patienten: unantastbar oder gefährdet?“ erhalten Sie hier in unserer flickr-Bildergalerie

Dokumentation

Wir haben für Sie via Twitter parallel von der Veranstaltung berichtet. Die Tweets finden Sie unter @ikk_ev.

Hier können Sie die einführenden Worte von Hans Peter Wollseifer, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V., sowie die Vorträge von Prof. Dr. med. Dr. phil. Heiner Raspe, Seniorprofessur für Bevölkerungsmedizin, Universität Lübeck, und Prof. Dr. Volker Ulrich, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre III – Finanzwissenschaft, Universität Bayreuth, herunterladen.

Der IKK e.V. ist die Interessenvertretung von Innungskrankenkassen auf Bundesebene. Der Verein wurde 2008 gegründet mit dem Ziel, die Interessen seiner Mitglieder und deren 5,1 Millionen Versicherten gegenüber allen wesentlichen Beteiligten des Gesundheitswesens zu vertreten.